Trachealkanülenmanagement bei Dysphagie

Für HCPs
6. Februar 2024

Bei tracheotomierten Patienten spielen Schluckstörungen eine besondere Rolle – ein Symptom, dem sich die European Society for Swallowing Disorders (ESSD) widmet. Mehr zum Erkrankungsbild und was dabei im Hinblick auf den Einsatz von Trachealkanülen beachtet werden sollte, erklären die Vorstandsmitglieder Prof. Dr. Rainer Dziewas, Chefarzt der Klinik für Neurologie und neurologische Frührehabilitation am Klinikum Osnabrück, und Björn Degen, Logopäde und Inhaber des Dysphagiezentrums Wien, im Interview.

Schematische Illustration des Schluckvorgangs

Wie relevant ist das Krankheitsbild Dysphagie
und welche Ursachen liegen zugrunde?

Prof. Rainer Dziewas: Bedenkt man, dass Schluckstörungen in einer Häufigkeit wie die Volkskrankheit Diabetes mellitus auftreten und etwa 13 Prozent der Gesamtbevölkerung ab einem Lebensalter von 65 Jahren und älter betreffen, wird die Relevanz augenscheinlich. Dysphagie ist keine Erkrankung an sich, sondern ein Symptom oder Syndrom, das als Begleiterscheinung verschiedenster anderer Krankheiten auftritt. Dabei kann der Patient die Nahrung nicht oder nicht in ausreichendem Umfang in den unteren Gastrointestinaltrakt transportieren. Das kann verschiedenste Ursachen haben. Ist die Schluckeffizienz beeinträchtigt, schafft es der Patient nicht, genügend Nahrung aufzunehmen. Fehlt es an Schlucksicherheit, gelangt Material in die Atemwege. Die gravierendsten Folgen sind also Mangelernährung und Lungenentzündungen.

Björn Degen: Die häufigste Ursache einer Dysphagie liegt in einer Erkrankung des Gehirns oder der anschließenden Nerven und Muskeln. Ebenso können aber auch Operationen oder Bestrahlung die Beeinträchtigung der anatomischen Struktur im Mund- und Rachenraum oder der Speiseröhre auslösen. Die Dysphagie tritt als Randerscheinung auf und beschäftigt die verschiedensten Fachgruppen als eine Komplikation – durchaus häufig, aber bis vor einigen Jahren ohne größere Beachtung. Ihr fehlte sozusagen die Lobby.

ESSD Logo

Die Europäische Gesellschaft für Schluckstörungen ist eine internationale gemeinnützige Vereinigung mit dem Ziel, die Qualität der Versorgung von Menschen mit Schluckstörungen zu verbessern. Die Gesellschaft bringt medizinisches Fachpersonal und Forscher aus verschiedenen Disziplinen zusammen, um Spitzenleistungen in der Pflege, Ausbildung und Forschung im Bereich Schluckphysiologie und Schluckstörungen zu fördern. Mehr Infos unter www.essd.org.

Das zu ändern, hat sich die ESSD zum Ziel gesetzt?

Prof. Rainer Dziewas: Schluckstörungen fanden vor 20 Jahren noch wenig Aufmerksamkeit. Nicht, weil es sie nicht gab, sondern weil das Wissen um die medizinische Bedeutung noch nicht verbreitet genug war. Dem will die European Society for Swallowing Disorders Abhilfe schaffen. Die ESSD ist eine internationale, multiprofessionelle Fachgesellschaft mit dem Ziel, die Qualität der Versorgung von Menschen mit Schluckstörungen zu verbessern. Als gemeinnützige Vereinigung bringen wir medizinisches Fachpersonal und Forscher aus unterschiedlichsten Disziplinen zusammen, um erstklassige Versorgung in Behandlung, Pflege, Ausbildung und Forschung auf dem Gebiet der Schluckphysiologie und Schluckstörungen zu fördern.

Björn Degen: Die ESSD schafft eine Plattform, auf der verschiedenste Professionen wie Neurologen, Gastroenterologen, Altersmediziner, HNO-Ärzte, Phoniater, Intensivmediziner und Strahlentherapeuten, aber auch Therapeutengruppen wie Logopäden, Ergo-, Physio- oder Ernährungstherapeuten zusammenkommen, um gemeinsam Ausbildung, Forschung, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Entwicklung bewährter Verfahren zu verbessern. Dazu bietet die ESSD ein internationales Forum zum fachlichen Austausch, unterstützt den Wissenstransfer durch Fort- und Weiterbildungsangebote, erarbeitet professionelle Praxisstandards und Leitlinien und verleiht dem Fachgebiet in Politik und Gesellschaft eine Stimme.

Prof. Rainer Dziewas: Unter den kontinuierlich stattfindenden Veranstaltungen ist der jährliche ESSD-Kongress, sicher das zentrale Ereignis. Er bietet sowohl für Fortbildung als auch für wissenschaftlichen Diskurs einen Rahmen. Und auch der Austausch mit der Industrie findet hier eine Bühne. Längst ist aus anfänglichem Sponsoring eine fachliche Partnerschaft gewachsen, die gegenseitige Interessen berücksichtigt und Fragestellungen bearbeitet.

Björn Degen: Entscheidend ist, die Versorgung bei Schluckstörungen so optimal und zeitgemäß wie möglich voranzutreiben. Unser aller Ziel ist es, eine Win-win-win-Situation zu schaffen: Der Austausch von medizinischen Experten und der Industrie führt zu wechselseitigem Wissenstransfer und Weiterentwicklung. Und davon profitieren dann letztlich auch die Patienten.

Prof. Dr. Rainer Dziewas

Professor Dziewas ist Facharzt für Neurologie und Chefarzt der Klinik für Neurologie und neurologische Frührehabilitation am Klinikum Osnabrück, Akademisches Lehrkrankenhaus des Universitätsklinikums Münster. In der European Society for Swallowing Disorders (ESSD) bekleidet Rainer Dziewas das Amt des Präsidenten und sitzt der Deutschen interdisziplinären Gesellschaft für Dysphagie vor. Er ist Mitglied verschiedener nationaler und internationaler Leitlinien-Komitees und Autor zahlreicher Originalpublikationen, Übersichtsarbeiten und Bücher. Seine Forschung beschäftigt sich sowohl mit grundlagenwissenschaftlichen Aspekten der zentralen Steuerung des Schluckaktes als auch mit der modernen Diagnostik und Therapie von Schluckstörungen.

Portraitfoto von Prof. Dr. Rainer Dziewas

Lassen Sie uns einen Blick auf die Patienten werfen. Gerade nach Tracheotomien spielt Dysphagie eine Rolle.

Prof. Rainer Dziewas: Patienten mit einer Trachealkanüle haben häufig das Problem, dass sie eine schwere Schluckstörung haben und daher den Atemweg nicht ausreichend sichern können. Eine Trachealkanüle, die mit einem Cuff im Atemweg fixiert ist, gewährleistet dann einerseits die ausreichende Beatmung, schützt aber gleichzeitig davor, dass Sekret statt in den Verdauungstrakt in die unteren Atemwege gelangt. Da die Ein- und Ausatmung dann unterhalb des Kehlkopfes stattfindet, vermindert sich die spontane Schluckfrequenz. Zudem kann der Patient nicht mehr sprechen. Um die ursprüngliche Fähigkeit des Schluckens zu trainieren und zumindest phasenweise auch Sprechen zu ermöglichen, ist eine geeignete Ausgestaltung der Hilfsmittel erforderlich. Typisches Vorgehen ist es, die Kanüle kontrolliert zu entblocken, um den Ausstrom der Luft durch die oberen Atemwege zu ermöglichen – zunächst für zehn Minuten, dann Schritt für Schritt länger. In dem Zuge kann auch ein Sprechventil zum Einsatz kommen. Es sorgt dafür, dass der Patient durch das subglottische Tracheostoma einatmen kann, beim Ausatmen die Luft aber durch den Kehlkopf an den Stimmbändern vorbei geleitet wird und Phonation ermöglicht.

Der Schluckvorgang

Beim Schlucken gelangt das Material aus der Mundhöhle (1) mithilfe der Zunge über den Rachenraum (2) zum Speiseröhreneingang.

Der Schluckvorgang – Phase 1
Der Schluckvorgang – Phase 2

Wichtig ist dabei, dass Kehldeckel und Stimmlippen den Eingang zur Luftröhre verschließen (3, 4).

Der Schluckvorgang – Phase 3
Der Schluckvorgang – Phase 4

Was ist bei der Wahl einer Trachealkanüle wichtig?

Björn Degen: Die Ausgestaltung der verwendeten Trachealkanüle muss stets der Patientensituation angepasst sein. Da sind zunächst natürlich die anatomischen Gegebenheiten zu beachten. Diesen muss mit Länge oder Krümmung der Kanüle entsprochen werden. Darüber hinaus sind Features wie ein Cuff zum Blocken der Luftröhre, vielleicht eine Möglichkeit zur subglottischen Sekretabsaugung oder eine Fensterung zur Phonation denkbar. Letztere lässt sich durch den Einsatz einer gefensterten Innenkanüle steuern.

Prof. Rainer Dziewas: Eine Innenkanüle ist auch bei der Kanülenpflege sehr hilfreich. Sekret, das sich an der Kanüleninnenseite festsetzt und verhärtet, kann nach dem Herausziehen der vorhandenen Innenkanüle einfach entfernt werden, ohne die gesamte Trachealkanüle bewegen zu müssen. Eine Innenkanüle kann aber für den Patienten durch den geringeren Durchmesser der Röhre die Atemarbeit erschweren. Es ist also immer abzuwägen, was dem Patienten zumutbar ist und was ihm nutzt. Ziel ist es letztlich, den Patienten Schritt für Schritt dahin zu bringen, dass er wieder selbstständig schlucken und problemfrei atmen kann. Dieser Prozess verläuft in verschiedenen Stadien. Daher brauchen wir bei der Versorgung unterschiedliche Optionen. Da kann es keine one-size-fits-all-Lösung geben. Erfreulicherweise sind die Möglichkeiten sehr umfassend.

Wir brauchen bei der Versorgung unterschiedliche Optionen.

Was ist darüber hinaus zu beachten?

Prof. Rainer Dziewas: Die Frage nach der optimalen Patientenversorgung hängt auch immer ein Stück weit davon ab, wie ausgeprägt sich das medizinische Personal mit den Funktionsmöglichkeiten der Trachealkanülen auskennt. Bei der Erstversorgung steht die Patientensicherheit im Fokus. Eine kleinere Zahl an Varianten schafft hier Sicherheit im Umgang. Bei der Langzeitbetreuung oder im Homecare-Bereich ist dann die Palette weitaus umfangreicher. Hier kann dann genau auf die verschiedenen Patientenbedürfnisse eingegangen werden. Die Anwendungsberater nehmen hier einen wichtigen Part ein. Sie können Empfehlungen aussprechen und im Weiteren die Betroffenen in der fachgerechten Anwendung der Trachealkanüle anleiten.

Björn Degen

Björn Degen ist ausgebildeter, langjähriger Logopäde und Inhaber des Dysphagiezentrums Wien mit umfassender Erfahrung bei der Behandlung von Patienten mit Schluckstörungen. Im Board des ESSD übernimmt er aktuell die Funktion des Schatzmeisters.

Portraitfoto Björn Degen

Was kann ein Sprechventil leisten?

Björn Degen: Zunächst soll es die ausreichende Luftzufuhr sicherstellen. Anders als beim Atmen durch die Nase, wird die Luft beim Einatmen durch die Kanüle aber nicht angefeuchtet. Das kann zu Komplikationen durch Austrocknen führen. Sprechaufsätze mit Schaumstofffilter können hier vorbeugen. Ein anderer Aspekt ist die Menge des Luftstroms bei der Ausatmung. Ist es für den Patienten – vielleicht wegen einer Engstelle – zu anstrengend, die gesamte Luftmenge durch den Kehlkopf auszuatmen, schaffen Ventile Erleichterung, bei denen ein Luftrückstrom eingestellt werden kann – im Therapiealltag meines Erachtens ein echter Game-Changer. Denn es geht immer darum, den Patienten so sehr zu belasten wie möglich, ohne zu überlasten.

Gibt es noch etwas, das Sie für die Therapie empfehlen?

Prof. Rainer Dziewas: Bei der Reetablierung der Schluckfunktion von tracheotomierten Patienten ist die Atemwegssicherung essenziell. Entsprechend der Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der assoziierten Fachgesellschaften sollte bei der Evaluierung der Atem- und Schluckfunktion eine endoskopische Untersuchung die Fortschritte absichern. Und das wiederum ist die Domäne der Schluckexperten, die sich in der ESSD treffen. Wer also eine zertifizierte Weiterbildung zu diesem wichtigen Thema anstrebt, ist hier genau richtig und kann sich das nötige Fachwissen vielleicht ja bereits auf dem kommenden Kongress aneignen.

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